Sendung vom 28. Juni 2019

Der Abgrund in mir

Stand

Die SWR Talkshow Gäste bei Michael Steinbrecher

Fast täglich erreichen uns Nachrichten über bestialische Gewaltverbrechen. Wir hören von einem eskalierten Familienstreit, der tödlich endete oder lesen über einen sensationsgierigen Gaffer, der ungeniert mit seinem Handy filmt, während ein Unfallopfer im Autowrack um sein Leben kämpft.
Die meisten Menschen sind davon überzeugt, dass sie zu solchen Grausamkeiten selbst nie in der Lage wären. Aber oft zeigt sich eine dunkle Seite in uns, mit der wir selbst nie gerechnet hätten. Wir sind völlig überrascht, wie in einer Notsituation nur noch das eigene Überleben zählt.
Abgründe tun sich überall auf. Da ist die aufopferungsvolle Mutter, die ihr Kind qualvoll verhungern lässt, der hilfsbereite Schwiegersohn, der über Jahre das Nachbarskind missbraucht oder die stets zurückhaltende Kollegin, die ihren Liebhaber ersticht. Es gibt unzählige Gründe, warum in uns das Böse zum Vorschein kommt: Eifersucht, Hass oder auch Habgier. Häufig aber sind die Motive erstaunlich banal. Nicht immer ist eine grauenvolle Tat von langer Hand geplant und bis in alle Einzelheiten durchdacht. Mal geht es um zu laute Musik in Nachbars Garten, die den Kleingärtner zur Axt greifen lässt. Mal ist es ein politischer Streit in einer Kneipe, der tödlich endet.
Oft entspringt das Böse einer Konfliktsituation oder Kränkung, manchmal entsteht es aus Gruppendruck. Gerade labile und autoritätshörige Menschen sind für Sekten und Fanatismus besonders anfällig. Zuerst als Mitläufer, später können sie sogar selbst zu Tätern werden. Was lässt einen Menschen zu einem psychopathischen Serienkiller werden? Ist jeder zu Taten fähig, die er sich selbst nie zugetraut hätte? Was ist es, was Abgründe in uns hervorholt?

Henry-Oliver Jakobs

Henry-Oliver Jakobs (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Henry-Oliver Jakobs stammt aus einer alt eingesessenen Kiez-Familie, ist in St. Pauli zwischen Zuhältern, Drogen und roher Gewalt aufgewachsen. Und stieg selbst zu einer gefürchteten Milieu-Größe auf. Bis ein Treffen mit zwei Geschäftspartnern mit einem kaltblütigen Mord endete: „Die Tat war geplant. Gefühlt habe ich dabei nichts. Ich habe zuvor schon viele Gewalttaten ausgeübt, dadurch stumpft man immer mehr ab.“ 19 Jahre saß er hinter Gittern. Heute arbeitet er in der Prävention gegen Jugendkriminalität.

Dr. Nahlah Saimeh

Dr. med. Nahlah Saimeh (Foto: SWR, SWR - Peter A. Schmidt)

„Die Biographie spielt im Leben späterer Täter eine relativ große Rolle“, so die forensische Psychiaterin Dr. Nahlah Saimeh. Sie sitzt eiskalten Psychopathen und brutalen Gewalttätern gegenüber und blickt in den Abgrund ihrer Seelen. Als Gutachterin zahlreicher bekannter Kriminalfälle kennt sie die Gründe, warum Menschen zu brutalen Verbrechern werden. Auch im Fall der Greueltaten im „Horror-Haus von Höxter“ gab sie im Prozess ihre Expertise zur Schuldfähigkeit der Täter ab.

Kerstin Nitschke

Kerstin Nitschke (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Auf äußerst schmerzhafte Weise hat Kerstin Nitschke Abgründe eines Menschen kennengelernt, den sie einmal sehr geliebt hat. Anfangs waren es die ganz großen Gefühle, die sie bewogen, für ihn ihre Heimstadt zu verlassen und zu ihm zu ziehen. Aber schnell zeigte sich: Der vermeintliche Traummann, mit dem sie 20 Jahre zusammenlebte, hatte zwei Gesichter. „Ich habe mit zwei Menschen gelebt: Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Waren wir draußen, war er der liebevollste Mensch, zuhause bekam ich seinen vollen Hass zu spüren.“

Henning Taube

Henning Taube (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Henning Taube weiß, wie es sich anfühlt, wenn sich im Innersten unkontrolliert Abgründe auftun und sich im Kopf Dämonen breit machen. Er leidet an Schizophrenie und kennt extreme seelische Ausnahmezustände. Plötzlich sind da Stimmen, wo keine sind, Wahngedanken verschwimmen mit der Realität, mal hielt er sich für Jesus, mal für Satan: „Auf dem Weg lag eine Eisenstange, die habe ich hochgehoben und geschrien: Ich bin Gott, ich habe das Recht zu töten, wenn mein Reich bedroht wird.“

Gisela Friedrichsen

Gisela Friedrichsen (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Als Gerichtsreporterin hat Gisela Friedrichsen schon in viele menschliche Abgründe mit abartigen Dimensionen geblickt. Seit 30 Jahren sitzt die Journalistin in Gerichtssälen und berichtet über furchtbare Verbrechen wie den Inzest-Fall Josef Fritzl oder den Kannibalen von Rotenburg: „Der Mensch ist zu allem fähig. Das wissen wir nicht erst seit Auschwitz.“ Fünf Jahre verfolgte sie den NSU-Prozess um Beate Zschäpe, aktuell beschäftigt sie sich mit dem Patienten-Massenmörder Niels Högel.

Vera Pein

Vera Pein (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Die Schützlinge, denen Vera Pein die fehlende Nestwärme gibt, wurden schon früh mit menschlichen Abgründen konfrontiert. Misshandelt, verwahrlost, geschlagen – das sind oft die Schicksale der Kinder, die in die Obhut der Pflegemutter kommen. Mehr als 60 Kinder nahm sie bereits bei sich auf: „Die Kinder kommen oft völlig apathisch, stark unterernährt oder schwer misshandelt zu mir. Es ist immer eine Herausforderung. Jeden Tag aufs Neue.“

Gäste vom 28. Juni 2019

Henry-Oliver Jakobs, vom Kiez zum Kriminellen und Mörder
Dr. Nahlah Saimeh, forensische Psychiaterin
Henning Taube, leidet nach Drogenkonsum unter schweren Psychosen
Gisela Friedrichsen, Gerichtsreporterin
Kerstin Nitschke, erlebte 20 Jahre Ehe-Hölle
Vera Pein, gab als Pflegemutter bereits 60 Kindern Nestwärme

Redaktion: Karen Rentsch, Nadine Ackermann, Marie-Luise Burgdorff, Simon Götz, Thorsten Fleischmann, Katja Stolle-Kranz

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SWR Fernsehen