Nachtcafé als Leuchtschriftzug (Foto: SWR, SWR - Alexander Kluge)

Sendung am 19. Oktober 2018

Quälende Ungewissheit

Stand

„Ich würde alles darum geben, damit diese Ungewissheit endlich ein Ende hat!“

Den Ausgang nicht zu kennen, sich tage- und nächtelang Sorgen zu machen, keine klare Antwort in ungewissen Situationen zu bekommen – dieser Zustand ist nicht nur enorm belastend, er kann auf Dauer krank machen und zermürben.

Da ist die kleine Tochter, die plötzlich spurlos verschwindet und eine Mutter zurücklässt, die fast wahnsinnig wird vor Schmerz und dem Gefühl von Ohnmacht. Oder der junge Mann, der durch Zufall erfährt, dass er ein Samenspenderkind ist und nun verzweifelt nach seinem Vater und seinen Wurzeln sucht.

„Sie haben Krebs!“ Kaum hat der Arzt diese Diagnose ausgesprochen, kommen sofort Ängste hoch vor Lebensbedrohung, Schmerzen und vor dem Sterben hoch. Wie lange bleibt mir noch? Schlägt die Therapie an? Was wird aus meinen Liebsten?

Das Bedürfnis nach Sicherheit und unumstößlichen Fakten, auf die wir uns jederzeit verlassen können, ist tief in uns verankert. Aber nix ist fix – das gilt heutzutage auch immer mehr im Berufsleben. Kurzzeitverträge sind zum Normalfall geworden. Planbarkeit? Fehlanzeige.
Ungewissheit hat aber nicht immer nur negative Aspekte, sie kann auch anspornen, neue Ideen und Perspektiven zu entwickeln.

Andreas Lösche

Der Fall bewegte in diesem Sommer ganz Deutschland: Andreas Lösches Schwester Sophia verschwand am 14. Juni beim Trampen. Weil die polizeilichen Ermittlungen nur schleppend anliefen, nahm die Familie der Vermissten die Suche selbst in die Hand. Nach einer Woche schließlich wurde die Leiche der 28-Jährigen in Spanien gefunden. „Wären wir nicht tätig geworden, wäre Sophias Leiche wohl nie gefunden worden, der Täter liefe noch frei herum“, kritisiert Lösche die Polizei.

Susann Tittel

Susann Tittel (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Wie es ist, um das Leben seiner Lieben zu bangen, weiß Susann Tittel nur allzu gut. Ihre Tochter Frieda starb kurz vor der Geburt. Als Tittel erneut schwanger wurde – dieses Mal mit Zwillingen – währte auch dieses Glück nur kurz. Eines der beiden Kinder starb noch im Mutterleib. Um das zweite Kind bangte die 37-Jährige monatelang: „Wird es gutgehen oder wird mein Sohn ebenfalls sterben – dieses Gefühlschaos war unerträglich.“

Juliane Diller

Juliane Diller (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Eine schreckliche Zeit der Ungewissheit musste auch Juliane Diller durchleben. Als 17-Jährige stürzte sie mit dem Flugzeug mitten über dem peruanischen Regenwald ab. Tagelang irrte sie schwer verletzt durch die Wildnis, bis sie wie durch ein Wunder gerettet wurde. Bei dem Unglück kamen 91 Insassen ums Leben, darunter auch ihre Mutter: „Immer wieder stelle ich mir die Frage: Ist es nun richtig gelaufen, dass du als Einzige überlebt hast?“

Dr. Georg Pieper

Dr. Georg Pieper (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Für den Psychotherapeuten Dr. Georg Pieper sind Zeiten der Ungewissheit vor allem dann quälend, wenn die Betroffenen nichts an der Situation ändern können. „Oft ist eine schlimme Gewissheit leichter zu ertragen als eine nicht endende Ungewissheit“, so der Trauma-Experte und fügt hinzu: „Im Grunde ist das ganze Leben eine einzige Ungewissheit.“ Pieper plädiert als Folge aus dieser Erkenntnis dafür, die Zeit, die wir haben, bewusst und aus vollem Herzen zu erleben.

Marc Jung

Marc Jung (Foto: SWR, SWR - Baschi Bender)

Vor neun Jahren erkrankte der Vater von Marc Jung an Chorea Huntington. Die Wahrscheinlichkeit, dass die tödlich verlaufende Erbkrankheit auch ihn trifft, liegt bei 50 Prozent. Ein Gentest könnte Gewissheit schaffen, trotzdem hat sich der 33-Jährige dagegen entschieden. Denn statt an der Ungewissheit zu verzweifeln, möchte der freischaffende Maler die Zeit so gut nutzen wie er kann. Die Schocknachricht war gleichzeitig der Startschuss für seine Künstlerkarriere: "Es war für mich eine Chance, mich von meinen Selbstzweifeln zu befreien.“

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SWR Fernsehen